Im Hospiz Olpe fühle ich mich sehr heimisch.
Hier nehmen „besondere Kinder“ zusammen mit ihren Eltern eine Auszeit vom Alltag.
Einmal schrieb ich in einem Singleportal, dass ich ein besonderes Kind habe. Das Wort behindert finde ich nicht angebracht. Ein Mann hat mir eine etwas aufbrausende Rückmeldung geschrieben, dass jedes Kind besonders sei. Mir wurde klar, er kannte den Begriff nicht. Er weiß nicht, was das heißt, ein „besonders Kind“ zu haben.
Wir sind geteilt, in zwei Parallelwelten.
Besondere Kinder haben besondere Eltern, stelle ich immer wieder fest.
Es ist eine besondere Lebensweise, mit besonderen Gedanken und Sorgen, besonderen Zielen und Wünschen.
Was wünscht sich die Mutter einen gesunden Kindes und was wünscht sich die Mutter eines besonderen Kindes?
Hier im Hospiz stelle ich einigen Müttern die Frage und erhalte immer die gleiche Antwort.
„Gesundheit für mein Kind.“
Eine Mutter antwortet auf die Frage, was sie sich wünscht im Scherz „ zwei Kilo Schokolade.“
„Ich verzichte auf Schokolade und bin bereit, meine Seele zu verkaufen, dafür, dass beide meine Töchter (an Stoffwechselstörung, erblich bedingt, erkrankt) wieder gesund werden.“
Die Mädchen sind acht und sechs Jahre alt und sehen auf den ersten Blick ganz normal aus. Die Mutter erläutert, dass bei fast normaler Entwicklung eines Tages ein Rückentwicklungsprozess eintritt. So, dass die Kinder kognitiv und auch körperlich nichts mehr können und zu völligen Pflegefällen werden und sterben, meistens sehr früh. Diesen Rückentwicklungsprozess bei den eigenen Kindern Tag für Tag zu beobachten, ist sehr hart. Jeder Tag ist dann ein Geschenk.
Manchmal beobachte ich Eltern auf der Straße, wie unachtsam und lieblos sie mit ihren eigenen Kindern umgehen. Da denke ich nur, wie gering ist das Bewusstsein bei den Eltern gesunder Kinder, die nicht begriffen haben, was für ein Geschenk sie haben, dass ihre Kinder laufen, sprechen können, immer unabhängiger werden.
Diesmal ist der Aufenthalt hier im Hospiz für mich besonders angenehm. Vielleicht, weil es Sommer ist und das Wetter schön, vielleicht, weil diesmal relativ junge, offene Eltern, meistens Mütter, dabei sind, oder aber auch, weil die Truppe international ist.
Eine Mutter, die mit der Schokolade, hat viele Jahre in Frankreich gelebt.
Eine weitere junge Mutter von drei Kindern, 23 Jahre alt, ist aus Sri Lanka. Sehr freundliche und offene, positiv denkende Frau, die im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen war. Ihre ältere Schwester ist mit 16 von zuhause ausgebüchst, erzählte sie, der Liebe wegen. Der Vater hatte entschieden, dies bei der nächsten Tochter nicht zuzulassen und eine Hochzeit mit einem ihr völlig unbekannten jungen Mann aus Sri Lanka arrangiert, dessen Eltern er kannte.
„Haben die Eltern eure Horoskope zumindest verglichen?“ fragte ich sie, da ich gehört hatte, dies werde in Teilen Indiens praktiziert. Das hatten die Eltern tatsächlich.
Das junge Paar ist hier mit allen drei Kindern. Die jüngste Tochter war in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen und hat eine Odyssee hinter sich. Sie ist total süß, winzig, wie ein Neugeborenes, obwohl sie bereits ein Jahr alt ist. Sie schreit viel, weil ihr Verdauungssystem unterentwickelt ist und sie an Bauchschmerzen leidet. Neugierig liegt sie am liebsten auf dem Bauch und beobachtet die Welt.
Eine Mutter ist aus Weißrussland, ich höre es an ihrem Akzent und spreche sie an. Sie ist mit beiden Kindern dort. Heldenhafte und stolze Namen tragen die Jungs. Der ältere heißt Konstantin, aber er liegt fast nur im Bett. Er möchte halt nicht so gerne raus, sagt mir die Mutter. Er ist sechs und geht dieses Jahr in die Schule.
Konstantin hat mich verzaubert. Sein Gesicht ist bildhübsch, sehr klare hellblaue Augen, blond und ein absolut klarer intelligenter Blick. Seine Fähigkeit, mit Augen und Mimik zu kommunizieren ist bemerkenswert. Man hat nicht das Gefühl, dass er nichts sagen kann, es wird völlig klar, was er will oder nicht. Ansonsten liegt er da, kann weder selbständig atmen, noch essen und ist und dabei geistig völlig klar. Man kann ihm seine Zuneigung zu dem jüngeren Bruder Alexander, vier Jahre alt, einem aktiven charmanten Kind, der auf seinem Bett sich hemmungslos austobt, ansehen. Die Mutter erzählt von sehr anstrengenden ersten Monaten der Schwangerschaft, bevor die Ärzte ihr versichern konnten, dass das zweite Kind völlig gesund sei. Er wächst mit seinem heißgeliebten Bruder auf und in den Köpfen der Kinder finden keine Schranken statt. Es ist einfach so und nicht anders. Er ist so und ich liebe ihn so, wie er ist, zeigt der jüngere Bruder dem älteren mit seinem Verhalten. Wenn diese Schranken mal aus allen Köpfen aller Menschen verschwinden würden.
Einmal, erzählt mir die Mutter, als Konstantin, (nicht zum ersten Mal) ins Krankenhaus musste, fragte Alexander „ kommt Konstantin wieder nach Hause?“
„Es gab mindestens fünf Situationen, wo wir ihn schon fast verloren hätten“, sagt die Mutter ruhig.
Als ich mit der Mutter und dem jüngeren Bruder Alexander in Konstantins Zimmer komme, um ihm gute Nacht zu wünschen, sage ich im Scherz zu ihm: „Du hast ja schon so viel erlebt, du bist sogar mit dem Hubschrauber geflogen.“ Er lächelt mich an.
Es war so eine Situation, erzählt die Mutter, als das Beatmungsgerät nicht funktioniert hat und Konstantin sofort ins Krankenhaus gebracht werden musste. Im Hubschrauber war kein Platz für die Eltern und die mussten mit dem Auto hinterher fahren. Was für eine grausame Situation. Das möchte sich keiner vorstellen.
Sie erzählt mir von ihrem Traum, dass er mit 12 Jahren nicht mehr da sein wird. Als sie den Traum ihrem Mann erzählte, sagte er nur „ Gott sei dank, wir haben ihn noch sechs Jahre“ Diese Geschichte geht unter die Haut.
Ich frage mich jedes Mal, wie die Eltern das durchstehen.
Wie gleicht man die eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Leben aus, als junge 32jährige Frau?
„Ich würde gerne noch eine Tochter haben“, sagt sie.
Ich befinde mich hier im Hospiz in einer Welt, unter Leuten, die mich verstehen, wo mein Kind nicht blöd angestarrt wird oder noch besser von anderen Kindern angesprochen, „was hat sie?“, gemeint ist meine Tochter. Ich befinde mich in meiner Welt, meiner Realität. Wo man sich jeden Tag an seinem Kind erfreut und Freude empfängt, jeden Tag schätzt und im Hier und Jetzt sich befindet. Es geht jeden Tag um Leben oder Tod. Ich sage das ganz ehrlich und ich bin glücklicher denn je. Jeden Tag geht es um die wichtigsten Dinge, die existenziellen im Leben, um die Gesundheit der eigenen Kinder. Im Alltag kämpft jede Mutter, oft alleinerziehend, für sich. Jede braucht Kraft für die wichtigen Dinge. Im Bürokratiekampf stehen wir alle häufig auf verlorenem Posten. Denn auch per Gesetz zustehende Dinge werden von Behörden und Krankenkassen verschwiegen oder abgelehnt. Fast jede Alleinerziehende in dieser Situation lebt von Hartz 4, was in den Augen der Gesellschaft ohnehin als unterste Schicht gilt. Man bekommt nirgendwo Anerkennung für das, was man tut. Obwohl diese Arbeit einen 24-Stundentag bedeutet und man die preiswerteste Pflegekraft ist.
Schon wieder eine Parallelwelt, ein Gefühl des Nicht-Dazugehörens.
© Lana R. Engel 2014
Lektorat: GrIngo Lahr