Am Rare Disease Day, der immer auf den letzten Tag im Februar fällt, machen Menschen weltweit auf die Situation und Anliegen von Betroffenen und ihren Angehörigen aufmerksam. Allein in Deutschland leiden rund vier Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Obwohl die Krankheitsbilder im Einzelnen sehr unterschiedlich sind, verlaufen sie fast alle fortschreitend und chronisch, gehen mit Invalidität und eingeschränkter Lebenserwartung einher und führen oft bereits im Kindesalter zu Symptomen.
Seltene Erkrankungen im Kinder- und Jugendhospiz Balthasar
Im Kinder- und Jugendhospiz Balthasar haben viele der jungen Gäste eine seltene Erkrankung. So auch der 13-jährige Sven*, der seit seiner Geburt an einem Adenylosuccinat-Lyase-Mangel leidet, einer Krankheit, von der weltweit weniger als 100 Menschen betroffen sind. „Man schätzt aber, dass es eine höhere Dunkelziffer gibt, da die Symptome sehr unspezifisch sind. Auch wir haben die Diagnose erst nach vier Jahren erhalten, da niemand diese Krankheit kannte“, erklärt Svens Mutter Sabine Herscheid. Da sie sich von Anfang an vieles selbst erarbeiten und erkämpfen musste, ist sie inzwischen zu einer echten Expertin geworden. Durch die Krankheit war der vorgeburtliche Aufbau der DNA gestört, was jedoch während der Schwangerschaft und nach der Geburt überhaupt nicht ersichtlich war. „Rückblickend kann man schon sagen, dass es Auffälligkeiten gab, aber damals haben wir und auch die Ärzte das nicht erkannt“, erinnert sich Sabine Herscheid. „Wir haben geglaubt, Sven sei nur etwas verzögert und bräuchte vielleicht nur einen Schubs.“ Trotz des Gefühls, dass etwas nicht stimmt, stand nie außer Frage, dass sich Sven mit der entsprechenden Förderung sicher noch gut entwickeln würde. Aber auch die Krankengymnastik brachte keine Verbesserungen. Mit 13 Monaten konnte er immer noch nicht den Kopf heben. Erst als er vier Jahre alt war, lernte die Familie Fachärzte kennen, die die Diagnose der seltenen Stoffwechselkrankheit stellen konnten. Den Eltern fiel es schon schwer genug, auszusprechen, dass ihr Sohn behindert ist. Als klar wurde, dass er sogar lebensverkürzt erkrankt war, war das ein riesiger Schock, der ihnen den Boden unter den Füßen wegzog. Ihren Mann und sie habe die Diagnose zusammengeschweißt, aber den Freundeskreis habe die Tatsache, dass Sven so schwer krank war, zweigeteilt. „Manche wollen oder können damit einfach nicht umgehen“, erzählt Thomas Herscheid, Svens Vater. „Sogar unter Eltern, die selbst schwerstbehinderte Kinder haben, hat man mit der Diagnose ‚lebensverkürzt erkrankt‘ eine Sonderstellung. Alle klammern sich eben ans Leben.“
Auswirkungen auf die gesamte Familie
Als Familie Herscheid endlich eine Diagnose hatte, änderten sich auch die Überlegungen zur Familienplanung. Nun war klar, dass Svens Krankheit genetisch bedingt ist. Gerne wollten die Eltern ein zweites Kind, stellten sich jedoch die Frage, ob auch dieses Kind die Krankheit haben könnte. Schnell war aber klar, dass weder Abtreibungen noch vorgeburtliche Diagnostik in Frage kommen. „Wir haben uns für ein Kind entschieden und nicht für medizinische Experimente“, erklärt Sabine Herscheid. Ihre Tochter Carla ist gesund.
Die vierköpfige Familie meistert ihr Leben inzwischen gut. Bis zu vier Wochen im Jahr fahren sie ins Kinder- und Jugendhospiz Balthasar, um zur Ruhe zu kommen und die Batterien wieder aufzuladen. Der Austausch mit den anderen Familien und den Mitarbeitern gibt ihnen neue Kraft und Rückhalt für den Alltag. Zu Hause wird die Mutter mehrmals in der Woche von einem Pflegedienst entlastet, bewusst aber nicht rund um die Uhr. „Sven ist und bleibt das große und bestimmende Moment in unserem Leben. Aber wir machen die Pflege gerne und zehren von jedem Lachen von ihm und von jedem guten Tag.“ Im Moment überwiegen die guten Tage und die Eltern sind überzeugt, dass ihr Sohn eine Kämpfernatur hat. Es gibt auch viele Erfahrungen und Begegnungen, die die Familie ohne Sven nicht gemacht hätten. Er habe sie Geduld gelehrt, erzählt Sabine Herscheid. Sie schätzen die kleinen Dinge im Leben, wissen generell das wertzuschätzen, was sie haben. Und sie haben auch viele tolle und engagierte Menschen kennen gelernt.
Leben mit einer seltenen Erkrankung
Wenn Frau Herscheid über ihr Leben spricht, lacht sie viel. Die zweifache Mutter hat eine unglaublich positive und herzliche Ausstrahlung. Woher nimmt sie die Kraft, ein Leben mit so vielen Ängsten und auch Einschränkungen anzunehmen? Ihr Glaube gebe ihr Kraft, das Grundvertrauen in den Sinn des Ganzen, sagt sie. Außerdem profitieren mittlerweile auch andere Familien von dem Wissen und den Erfahrungen, die sie und ihr Mann sich angeeignet haben. Sie beraten andere Eltern mit schwerkranken Kindern und haben über das Internet sogar Familien kennen gelernt, deren Kinder dieselbe seltene Stoffwechselkrankheit haben. „Vor allem aber gibt mir meine Familie Kraft und Sven selbst“, betont sie.
Für die Zukunft wünscht sich die Familie, dass seltene Erkrankungen viel mehr ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden, damit man nicht immer als etwas Besonderes gelte. So unbeschwert, wie Svens gesunde Schwester mit ihrem Bruder umgehe, so müsste es die ganze Gesellschaft tun, finden die Herscheids. Da darf gelacht und auch geschimpft werden, wie in jeder anderen Familie auch. Außerdem brauche es dringend mehr Gelder, damit seltene Erkrankungen und mögliche Therapien besser erforscht werden können. Auch eine intensivere Vernetzung kann eine große Hilfe für Betroffene sein, um mit Fragen und Sorgen aufgefangen zu werden und von den Erfahrungen wechselseitig zu profitieren.
Für Familie Herscheid ist die Zeit im Kinderhospiz besonders wichtig: „Ich muss nicht jedes Mal alles neu erklären. Ich darf ankommen, da sein, die Pflege abgeben und Sven in guten Händen wissen, mich an den Tisch setzen, die Sorgen aussprechen. Ich darf schlafen, lachen, unbeschwert mit Carla spielen, ohne auf die Uhr zu schauen - ich darf mich zu Hause fühlen. Und das tut unendlich gut.“
*Alle Namen geändert.